Wie schätzen Sie das allgemeine Wissen und Verständnis ein für die Altersvorsorge?
Erich Ettlin: Aktuelle Studien zeigen, dass das allgemeine Finanzwissen tief ist. Das deckt sich auch mit meiner persönlichen Einschätzung. Nur wenige Leute können einen Pensionskassenausweis richtig lesen. Das muss uns beschäftigen, weil das fehlende Verständnis für das Funktionieren der Altersvorsorge politisch gezielt bewirtschaftet wird. Zudem stelle ich fest, dass sich die Erwartungshaltung an den Staat bis weit in bürgerliche Kreise verändert hat. Viele Menschen erwarten heute, dass sich der Staat um sie sorgt oder dass die Wirtschaft die Leistungen finanziert. Hier hat eine Veränderung stattgefunden.
Rafael Lötscher: In meiner Unterrichtstätigkeit stelle ich fest, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene kaum mit der Altersvorsorge beschäftigen. Viele haben kein Interesse und keine Ahnung. Das hat mich erschreckt. Das Thema scheint in jungen Jahren viel zu weit weg zu sein. Kommt hinzu, dass das Grundlagenwissen an den Schulen kaum vermittelt wird. Ich wünschte mir, die Berufsschulen und Gymnasien würden dem Thema mehr Platz einräumen. Als Unternehmen versuchen wir, mit Studien und Öffentlichkeitsarbeit das Wissen zu verbessern und eine Sensibilisierung anzustossen.
Ist denn das Wissen in der Politik grösser?
Erich Ettlin: Ich denke nicht. In den zuständigen Kommissionen gibt es natürlich Parlamentarier, die über ein grösseres Wissen verfügen – auch weil sie sich beruflich mit dem Thema beschäftigen. Aber ansonsten spiegelt das Parlament das Wissen der Bevölkerung.
Würde mehr Transparenz zur Sensibilisierung beitragen?
Rafael Lötscher: Ja, davon bin ich überzeugt. In der beruflichen Vorsorge werden pro Jahr mehrere Milliarden von den Versicherten zu den Rentnern umverteilt. Warum wird die Umverteilung pro Person nicht auf dem Pensionskassenausweis aufgeführt? Das würde die Versicherten stärker für das Thema sensibilisieren.
Erich Ettlin: Ich bin einverstanden, Transparenz zu schaffen und die Umverteilung immer wieder vor Augen zu führen. Allerdings habe ich Zweifel, ob dieser Betrag genau berechnet werden kann. Zudem habe ich Respekt davor, den Druck auf die Rentnerinnen und Rentner weiter zu erhöhen. Wir dürfen keinen Generationenkonflikt aufreissen.
Die AHV-Rente für Verheiratete wird auf Mann und Frau gesplittet. Beim BVG erfolgt eine Aufteilung des angesparten Vorsorgevermögens nur im Falle einer Scheidung.
Rafael Lötscher: Mit einem Splitting könnte man zum Beispiel während einer Babypause das angesammelte Vorsorgevermögen des Mannes zur Hälfte der Frau gutschreiben. Das würde den Gender Pension Gap verringern und die finanzielle Sicherheit der Frau erhöhen. Administrativ wäre das problemlos möglich. Bereits heute muss eine Pensionskasse eine Schattenrechnung führen, damit sie im Scheidungsfall das Vorsorgevermögen teilen kann, das während der Ehe angespart wurde.
Erich Ettlin: Ein richtiges Splitting würde bedeuten, das berufliche Altersguthaben des Mannes und der Frau aufzuteilen. Das wäre ein grosser Eingriff ins System. Ich könnte mir das grundsätzlich vorstellen. Meine Motion, Einkäufe in die Säule 3a zu ermöglichen, nimmt die fehlenden Einzahlungszeiten teilweise auf. Das Parlament hat den Vorstoss gutgeheissen.
Der Einkauf in die Säule 3a begünstigt doch vor allem Reiche! Nur 13 Prozent der Steuerpflichtigen vermag heute den maximalen Beitrag in die dritte Säule einzuzahlen.
Erich Ettlin: Ich kenne diese Kritik. Sie ist aber falsch. Dass nur 13 Prozent das Maximum einzahlen, heisst nicht, die übrigen Erwerbstätigen könnten nicht mehr einzahlen. Viele zahlen das Maximum nicht ein – auch aus Nichtwissen. Dem 55-jährigen Familienvater sollte es doch möglich sein, in die 3. Säule nachzuzahlen, wenn die Kinder ausgeflogen sind!
Rafael Lötscher: Ich teile diese Meinung. Für den Mittelstand wäre es attraktiv, die 3a-Lücken zu refinanzieren. Auch für Frauen, die nach einer Berufspause wieder ins Erwerbsleben zurückkehren. Dagegen haben Gutver-dienende in der Regel kaum Lücken. Sie haben ab Mitte 30 ihr jährliches 3a-Maximum finanziert.
Kritisiert wird auch, dass es sich beim Einkauf um eine Steueroptimierung handelt.
Erich Ettlin: Das ist aber so gewollt. Der Staat gewährt den Steuerabzug, um die Leute zu motivieren, ihre persönliche Vorsorge aufzubauen. Davon profitiert der Staat ja auch wieder.
Das Parlament hat Ihre Motion unterstützt. Ist schon klar, wann sie tatsächlich umgesetzt wird?
Erich Ettlin: Das zuständige Bundesamt für Sozialversicherung tut sich schwer. Es hat keine Freude am Vorstoss. Sicher ist, dass die Motion unabhängig von der aktuellen BVG-Revision umgesetzt wird. Ich hoffe, die Umsetzung erfolgt auf den 1. Januar 2024.
Rafael Lötscher: Kürzlich hat der Nationalrat einen Vorstoss von Erich Hess überwiesen, der die Beiträge in die Säule 3a massiv erhöhen will. Hat dieser Vorstoss einen Einfluss auf Ihre Motion?
Erich Ettlin: Ja, leider. Der Vorstoss tut unserem Anliegen nicht gut. Die Kritik ist sofort zur Hand: Das ist schon das nächste, was die Bürgerlichen wollen. Mein Vorstoss ist das höchste der Gefühle. Mehr geht politisch nicht. Wir müssen aufpassen, dass wir das Fuder nicht überladen.
Heute wird der Kapitalbezug der Rente vermehrt vorgezogen. Ist beim Kapitalbezug mit Einschränkungen zu rechnen?
Erich Ettlin: Es gab im Parlament immer wieder Versuche, den Kapitalbezug zu reduzieren. Ich habe zwar Verständnis für das Anliegen. Allerdings: Wenn man den Kapitalbezug reduziert, wird das Vertrauen in die zweite Säule geschmälert. Vielen Leuten ist es wichtig, das Kapital herauszunehmen. Die richtige Lösung wäre es, dass keine Ergänzungsleistungen beziehen darf, wer sein Alterskapital auf einer Kreuzfahrt verprasst hat. Das ist politisch aber nicht mehrheitsfähig. Der Widerstand der Gemeinden wäre vorprogrammiert. Diese müssten die Kosten über die wirtschaftliche Sozialhilfe tragen.
Mit der Altersreform 2020 wollte man AHV und BVG gemeinsam in einem Paket reformieren. Aktuell laufen die Revisionen getrennt. Ist das ein Vorteil?
Erich Ettlin: Ich habe für die Altersreform 2020 gekämpft. In der aktuellen BVG-Revision haben wir ein Problem: Wenn wir etwas kompensieren, dann bezahlt das jeder selber. Wir können die tiefen Einkommen zwar besser versichern, aber diese müssen die höheren Beiträge mitfinanzieren. Bei der Altersreform 2020 hatten wir die Chance, BVG-Massnahmen in der AHV zu kompensieren. In der AHV gibt es eine Um-verteilung, diese ist akzeptiert. Aktuell scheitern wir an vielen Punkten, weil wir die beiden Vorlagen getrennt haben.
Man könnte die BVG-Revision mit Gewinnen der Nationalbank finanzieren!
Erich Ettlin: Wenn wir die Finanzierung von aussen holen, zum Beispiel von der Nationalbank, dann zerstören wir das System der beruflichen Vorsorge.
In diesem Herbst kommt nun vorab die AHV 21 zur Abstimmung. Welche Auswirkungen hat die Abstimmung auf die laufende BVG-Revision?
Erich Ettlin: Die AHV 21 ist eine Kernabstimmung. Wenn wir diese verlieren, dann haben wir auch bei der BVG-Revision ein Problem. Dann bekommt der Sozialpartnerkompromiss Auftrieb. Und seien wir ehrlich, der Sozialpartnerkompromiss ist der erste Schritt, die zweite Säule in die AHV zu integrieren. Diesen Plan verfolgt die politische Linke konsequent.
Rafael Lötscher: Was wird das Hauptargument der Gegner gegen die AHV-Revision sein? Die Erhöhung des AHV-Alters für Frauen?
Erich Ettlin: Linke und Gewerkschaften werden den Rentenklau beklagen. Rentenklau auf dem Buckel der Frauen, die ohnehin schon weniger Renten haben. Die Renten bei den Frauen sind tiefer, aber nur wenn man BVG und AHV zusammennimmt. In der AHV haben wir kein Problem!
Wo sehen Sie künftig das Rentenalter?
Rafael Lötscher: Sicher höher als heute. Es scheint, als seien wir mittlerweile Europameister im Verdrängen von unangenehmen Tatsachen. Andere Länder in Europa sind da weiter. In Deutschland wurde das Rentenalter 2021 mit langen Übergangsfristen auf 67 erhöht, analog Island und Italien. Personen, welche 2018 in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, werden beispielsweise in Dänemark ein Rentenalter 74 haben.
Erich Ettlin: Der extreme Fachkräftemangel wird den Druck auf das Rentenalter erhöhen. Versicherungsmathematisch müsste es zwischen 67 und 69 Jahren sein. Das wissen alle. Das wissen auch Linke und Gewerkschaften. Diese hoffen einfach, dass irgendjemand die Finanzierungslücke stopft – sei dies die Nationalbank, der Staat oder die gute Fee hinter dem Baum.