Wie beurteilen Sie die BVG-Revision, die das Parlament verabschiedet hat?
Damian Müller: Wir haben in der beruflichen Vorsorge Handlungsbedarf. In erster Linie macht die demografische Entwicklung Anpassungen nötig. Zudem haben sich die Arbeitswelt und das Familienleben in den letzten Jahren stark verändert. Die Revision nimmt verschiedene Anliegen auf und hat Stärken. Wir waren uns im Parlament etwa rasch einig, dass der Umwandlungssatz gesenkt werden soll.
Und Schwächen?
DM: Wir haben uns zu sehr auf Details eingeschossen. Das Parlament hat bisweilen das Grosse und Ganze aus den Augen verloren. Oder um es etwas pointierter auszudrücken: Das Parlament hat in der Detailberatung den Kompass verloren. Die Vorlage wird es vor dem Volk schwer haben.
Den Kompass verloren?
DM: Das BVG haben wir nicht für die Gutverdienenden in unserem Land eingeführt. Die berufliche Vorsorge sollte vielmehr Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen finanzielle Stabilität nach der Pensionierung sichern. Die aktuelle Revision nimmt Renteneinbussen bei tiefen Einkommen und massiv höhere Kosten für Arbeitgeber in Kauf – namentlich für die KMU-Wirtschaft, Bauern und Gewerbe. Dies, obwohl alle Parteien zu Beginn feierlich gelobt haben, genau das zu verhindern. Aus gutem Grund: Bereits 2010 schickte das Stimmvolk den Versuch bachab, den Mindestumwandlungssatz zu senken, ohne das Rentenniveau für Erwerbstätige zu erhalten, die kurz vor der Pensionierung stehen und nur mit bescheidenen Renten rechnen können.
Gleichzeitig sieht die Revision verschiedene Massnahmen vor, um Teilzeitbeschäftigte besser zu versichern. Der Koordinationsabzug soll gesenkt werden.
DM: Es war lange eine parteiübergreifende Vision, den Koordinationsabzug ganz abzuschaffen. Das wäre aber in einem Schritt schlicht nicht finanzierbar gewesen. Mein Vorschlag war, den Abzug in einem ersten Schritt zu halbieren und dann in drei weiteren Schritten ganz abzuschaffen. Auf die Halbierung hatten sich auch die Sozialpartner verständigt. Wobei schon dieser Schritt für das Gewerbe und viele Beschäftigte mit tieferen Löhnen finanziell nicht leicht verdaubar gewesen wäre. Trotzdem hätte die Halbierung die Renten für viele Frauen und Mehrfachbeschäftigte massiv verbessert.
Stattdessen soll der Koordinationsabzug neu 20% des Lohnes betragen.
DM: Diese Prozentlösung ist eine Fehlkonstruktion. Der prozentuale Abzug macht das System komplexer und auch unattraktiver für Teilzeitbeschäftigte mit kleineren Pensen und ihre Arbeitgeber.
Was spricht gegen die Prozentlösung?
DM: Mit der neuen Lösung werden 80 Prozent des Lohnes versichert. Was gut und einfach tönt, ist in Tat und Wahrheit ziemlich komplex und schwer zu erklären. Es ist fast die Abschaffung, aber nicht ganz. Dafür mit mehr Nachteilen. Der Koordinationsabzug muss bei jeder Lohnanpassung neu berechnet werden. Der administrative Aufwand für die Arbeitgeber ist bedeutend grösser. Insbesondere aber werden ausgerechnet Teilzeitbeschäftigte mit tieferen Löhnen massiv höhere Lohnabzüge haben – diese werden sich oft vervielfachen gegenüber heute. Und ihre Arbeitgeber trifft es mit enormen Zusatzkosten. Prozentual bedeutet, dass der Kostenhammer vor allem tiefere Einkommen trifft – sie werden Ende Monat eine deutliche Lücke spüren im Portemonnaie.
Aber auch diese Lösung führt zu höheren Sparbeiträgen und damit zu höheren Renten.
DM: Höhere Sparbeiträge bedeuten höhere Abzüge. Und diese tun Erwerbstätigen mit tiefem Einkommen weh. Viele Gutbetuchte im Parlament haben wohl in der Hitze des Gefechts vergessen, was es heisst, wenn Ende Monat plötzlich 100 Franken fehlen, wenn es in der Haushaltskasse sonst schon knapp ist. Richtig ist aber, dass im Gegenzug dafür auch die Renten von Teilzeiterwerbstätigen steigen werden. Aber wir sprechen hier von vielleicht 500 statt 300 Franken pro Monat nach vierzig Jahren Beitragszahlung. Auch dieser Betrag wird nicht reichen, um davon – zusammen mit einer durchschnittlichen AHV-Rente – im Alter anständig leben zu können. Es wäre deshalb eine gute Balance gefragt gewesen. Stattdessen steht die Vorlage nun im Gegenwind sowohl aus Arbeitnehmerkreisen als auch aus dem Gewerbe und dem Bauernstand.
Um den tieferen Umwandlungssatz abzufedern, hat das Parlament ausserdem lebenslange Zuschläge für die nächsten 15 Rentnerjahrgänge eingeführt. Ist das sinnvoll?
DM: Rein technisch müsste man diese Zuschläge nicht einführen. Das ist ein politischer Entscheid, um die Rentenkürzungen für ältere Erwerbstätige auszugleichen. Entsprechend heftig wird die Lösung aus Fachkreisen kritisiert. Diesen muss ich erwidern: Das BVG ist eine Sozialversicherung mit einem Verfassungsauftrag. Auch diese Massnahme war ein Balanceakt. Die jetzige Lösung darf sich sehen lassen. Bei der Einführung des BVG hat man 1985 übrigens aus ähnlichen Gründen für 20 Jahrgänge der Eintrittsgeneration eine viel grosszügigere Lösung gewählt.
Sie haben sich der Schlussabstimmung im Ständerat der Stimme enthalten. Wie wird sich der Stimmbürger Damian Müller an der Urne entscheiden?
DM: Zum Glück gibt es das Stimmgeheimnis (lacht). Ich habe mich in der Beratung für sinnvolle Eckwerte und eine ausgewogene Vorlage eingesetzt. Darum enttäuscht mich insbesondere der Entscheid zum Koordinationsabzug. Ein Schnellschuss, der wenig durchdacht ist. Ob das Stimmvolk diesmal Renteneinbussen für ältere Vollzeiterwerbstätige, Einkommenseinbussen für Geringverdiener und massive Mehrkosten für Gewerbe und Bauern in Kauf nimmt, wird sich zeigen.
Damian Müller, herzlichen Dank für das Gespräch. Dieses Interview wurde geführt von Adrian Bühler (media-work gmbh).
Damian Müller
Ständerat Kanton Luzern
Damian Müller vertritt den Kanton Luzern seit 2015 im Ständerat. Dort politisiert er u.a. in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-S), deren Vizepräsident er zurzeit ist. Der 38-jährige FDP-Politiker lebt in Hitzkirch. Ursprünglich hat Damian Müller eine kaufmännische Lehre absolviert. Heute arbeitet er in einem Teilzeitpensum als Senior Berater Public Affairs bei der Mobiliar.