Pragmatische Lösungsansätze für Frauen

Vorsorgereform
In der Vorsorge sind Frauen die Verliererinnen. Ihre Renten sind im Durchschnitt um ein Drittel kleiner. Woher kommt dieser «Gender Pension Gap»? Und wie lässt sich die Lücke verringern? PensExpert wollte es genauer wissen und beauftragte das Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen mit einer Studie. Wir sprachen mit Prof. Dr. Martin Eling über die Ergebnisse der Umfrage.
23. Dezember 2021
Geschrieben von
Fabio Brunner
Marketingverantwortlicher

Martin Eling: Welches ist für Sie selbst die überraschendste Erkenntnis aus Ihrer Studie?

Am überraschendsten – und erfreulichsten – ist die Klarheit der Ergebnisse. Wir haben sieben Themen zur Diskussion gestellt. Bei drei dieser Themen herrscht völlige Übereinstimmung zwischen Bevölkerung und Experten: bei der Senkung der Eintrittsschwelle, des Eintrittsalters für das Sparen in der 2. Säule sowie bei der Möglichkeit der Nachfinanzierung in Säule 3a. Ich hätte da kontroversere Meinungen erwartet. Diese Einigkeit zwischen Bevölkerung und Experten interpretiere ich auch als Handlungsauftrag an die Politik.

Die Studie appelliert an die Eigenverantwortung. Aber sie zeigt auch, dass die Voraussetzungen für Eigenverantwortung erst geschaffen werden müssen, Stichwort «Financial Literacy». Wo genau liegt das Problem?

Beim Finanzwissen drückt der Schuh wahrscheinlich am stärksten. Das Schweizer Vorsorgesystem ist sehr komplex. Um gut vorzusorgen, braucht es ein finanzielles Grundwissen. Aber wie wir bereits aus anderen Studien wissen: Ein Drittel der Bevölkerung ist grundsätzlich nicht in der Lage, auch einfache Finanzfragen zu beantworten. Damit fehlt die Grundlage für gute Entscheidungen.

Wie lässt sich dieses Problem beheben?

Wir müssen dem Thema Vorsorge viel mehr Aufmerksamkeit schenken – in den Medien und auch bereits in der Schule. Es wäre schon sehr viel erreicht, wenn nach der obligatorischen Schulzeit wirklich jeder und jede Schulabgängerin einen Pensionskassen-Ausweis verstehen kann. Und begriffen hat: Ich muss in meine Vorsorge investieren. Heute kann der Staat meine Vorsorge nicht mehr garantieren. Ich muss mich selbst um meine Vorsorgelücken kümmern. Ich muss begriffen haben, dass die Vorsorgeplanung zu meiner Lebensplanung gehört.

Wird die Bedeutung der eigenen Vorsorgeverantwortung für den Lebensstandard im Alter immer noch sträflich unterschätzt?

Ja. Wir müssen Frauen wie Männer gleichermassen für das Thema sensibilisieren. Denn die fehlende gemeinsame Lebensplanung stellt einen zentralen Auslöser für den Gender Pension Gap dar. Was passiert mit meiner Vorsorge z.B. bei der Geburt eines Kindes? Wer pflegt die Angehörigen? Und welche Konsequenzen hat das für meine Vorsorge? Wir möchten, dass die Altersvorsorge bei allen Lebensentscheiden mit ins Spiel gebracht wird, damit die Weichen bewusst gestellt werden können. Der Gender Pension Gap hat auch stark mit Rollenbildern zu tun: Wir haben das Problem veralteter Konzepte von Normbiografien, die von einem ungetrennten, männlich dominierten Ehepaar ausgehen und weder Scheidungsfolgen noch Konkubinatshäufigkeit berücksichtigen.

Wir müssen uns also an deutlich flexibleren Erwerbsbiografien orientieren?

Korrekt. Das Vorsorgesystem setzt immer noch sehr stark auf die Idee «ein Arbeitgeber ein Leben lang». Wenn man dann regelmässige Wechsel hat, dann laufen wir hier in die administrative Kostenfalle. Jeder Wechsel kostet gut und gern 500 Franken. Wenn ich also mehrmals den Arbeitgeber wechsle, was heute nicht unüblich ist, dann lässt sich aus- rechnen, wie das auch zu Lasten der Rendite geht. In der digitalen Welt müssen wir Lösungen finden, die auch administrativ schlanker sind. Das führt natürlich zu einer anderen Diskussion, zu einer Frage, die auch immer wieder thematisiert wird: die Frage nach der freien Pensionskassenwahl. Hier etwas zu verändern, bedeutete in der Schweiz einen grossen Schritt. Doch bereits eine Flexibilisierung der Administration der Vorsorgegelder wäre sehr wünschenswert.

Ihre Studie machte klar: Es gibt nicht nur den Gender Pension Gap, sondern auch eine Wissenskluft. Männer wissen besser Bescheid über ihre Vorsorge als Frauen.

So ist es. Jeder dritte befragte Mann zeigt ein hohes Wissenslevel über die eigene Vorsorgesituation, während dies nur auf jede fünfte Frau zutrifft. Kommt dazu: Männer – auch junge Männer bis 25 Jahre – beschäftigen sich früher mit dem Thema Altersvorsorge. Frauen hinken etwa 10 Jahre hinterher und beschäftigen sich erst dann mit ihrer Vorsorge, wenn ein grosser Teil des Sparprozesses bereits abgeschlossen ist. Damit gehen wertvolle Beitragsjahre verloren.

Was lässt sich dagegen tun?

Wir brauchen eine andere Art der Kommunikation, eine frauengerechtere Ansprache der Vorsorgethemen. Frauen müssen wir stärker auf einer emotionalen Ebene ansprechen. Ich bin kein Kommunikationsexperte. Aber ich kann mir vorstellen, dass diese andere Ansprache gerade in der digitalen Welt bei jungen Frauen rasch gelingen könnte: mit Visualisierungen, mit Erklärvideos im Internet, mit Vorsorge-Influencern sogar.

Wie einige Vorgängerstudien stellen Sie fest: Die berufliche Vorsorge ist der Haupttreiber des Gender Pension Gaps in der Schweiz. Wie wollen Sie in der 2. Säule konkret Gegensteuer geben?

Wirklich wichtig ist, dass wir uns die Eintrittsschwelle und den Koordinationsabzug in der beruflichen Vorsorge einmal anschauen. Wir leben in einer zunehmend digitalen Welt, wo wir viele – auch selbständige und oft parallele – Tätigkeiten in Teilzeit mit geringem Einkommen beobachten. All diese Leute fallen im Vorsorgesystem unten durch. Und das betrifft ganz besonders viele Frauen. Wenn wir die Eintrittsschwelle für die 2. Säule markant senken, dann können wir gerade viele Frauen in die berufliche Vorsorge integrieren.

Auch der Koordinationsabzug (25'095 Fr. aktuell) muss deutlich reduziert werden. Er ist ein Konstrukt aus der «alten Welt», als in den 80er Jahren das BVG flächendeckend eingeführt wurde, um das, was schon in der AHV drin ist, zum Abzug zu bringen. Heute ist unbestritten, dass wir mehr sparen müssen. Die Gruppe, die davon überproportional profitiert: Das sind die Frauen.

Neben der Tieferlegung der Eintrittsschwelle und der Reduktion des Koordinationsabzugs schlagen Sie auch vor, das Eintrittsalter für das Sparen in der 2. Säule von heute 25 auf 18 Jahre zu senken. Was versprechen Sie sich davon?

Diese Massnahme wäre besonders für die Frauen bei minimalem Aufwand ein wirklich grosser Gewinn. Wenn wir früher mit Sparen beginnen, können wir mehr sparen. Für unsere Fragestellung ist das sehr relevant, weil die meisten Frauen in der Schweiz ihre Kinder erst nach dem 25. Altersjahr bekommen. Mit dem Eintrittsalter 18 nutzen wir die Periode, wo Frauen und Männer im Beruf noch gleich engagiert sind. Auch bei eingeschränkten Sparmöglichkeiten können wir dank des Zinseszinseffektes über fast 40 Jahre einen relativ grossen Nutzen erzielen.

Sie schlagen auch vor: Auszeiten für Kinderbetreuung und Pflege sollten auch in der beruflichen Vorsorge berücksichtigt werden, damit keine Lücken in der Pensionskasse entstehen. Und weiter: Das angesammelte Altersguthaben beider Elternteile soll bei der Geburt eines Kindes für eine bestimmte Zeit der Kinderbetreuung gesplittet werden. Spannend die Auswertung: hohe Zustimmung bei der Bevölkerung – hohe Ablehnung bei den Experten …

… was wenig überraschend ist, es geht ja um einen Systemeingriff. Das geltende Prinzip der beruflichen Vorsorge beruht auf der Idee der individuellen Vorsorge: Jeder für sich. Mit der Abkehr von diesem Prinzip würden wir eine neue Umverteilung einführen. Aber genau darum geht es mir. Aktuell haben wir eine gewaltige Umverteilung von Jung zu Alt in Milliardenhöhe. Um die Lücke bei den Frauen etwas zu schliessen, fände ich es persönlich besser, diese systemwidrige und intransparente Umverteilung abzustellen und dafür bewusst eine erwünschte Umverteilung einzuführen.

Hohe Zustimmung sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Experten findet dagegen Ihr Reformvorschlag für die Säule 3a: Lücken aufgrund von Auszeiten für Kinderbetreuung und Pflege sollten später – unabhängig vom Erwerbsprinzip – nachfinanziert werden können. Bringt das den Frauen einen Mehrwert?

Ja, dieser Vorschlag bringt den Frauen viel – und ist gleichzeitig genderneutral! Natürlich kann ich mit der 1. und der 3. Säule allein meinen Lebens-standard im Alter nicht sichern. Aber wir haben hier ein Angebot an zwei Drittel der Bevölkerung, welches das Problem des Gender Pension Gaps lindert. Und die Bedeutung der privaten Vorsorge in Säule 3a nimmt zu, weil die Beiträge aus Säulen 1 und 2 – relativ betrachtet – geringer werden. Säule 1 wegen der Demografie, Säule 2 auch wegen der anhaltend tiefen Zinsen.

Martin Eling: Wenn Sie Carte blanche und die sprichwörtliche «Grüne Wiese» hätten: Wie würden Sie – und gerade aus Gender Pension Gap-Perspektive – ein zukunftstaugliches Vorsorgesystem bauen?

Ich würde tatsächlich die drei Säulen wieder implementieren. Ich glaube, dass die Idee einer umlage-finanzierten 1. Säule kombiniert mit einer kapitalgedeckten beruflichen und privaten Vorsorge vom Systemgedanken her eine sehr gute Lösung ist. Wir müssen sie jetzt bloss fit machen für das 21. Jahr-hundert – mit nachhaltigen Parametern! Und da läge die Idee eines flexiblen, an die Lebenserwartung gekoppelten Renteneintrittsalters bei mir mit drin. Und wir sollten bestimmte Parameter, die heute politisch gewählt werden – also Umwandlungssatz und Eintrittsalter – objektivieren. Dann hätten wir aus meiner Sicht auch weiterhin das beste System der Welt.

Martin Eling, herzlichen Dank für das Gespräch.

Dieses Interview wurde geführt von Michael Egloff, Musqueteers.

Geschrieben von
Fabio Brunner
Marketingverantwortlicher