AHV-Anpassungen müssten dringend angepackt werden, aber die Politik tut sich extrem schwer, «Konsenslösungen» zu finden. Und zur Reform AHV21 wurde das Referendum ergriffen. Das Volk wird im Herbst darüber entscheiden. Ist die Schweizer Politik überhaupt noch reformfähig?
Mark Huber: Der grosse Streitpunkt ist das Rentenalter. Uns als Firma betrifft vor allem die BVG-Revision. Aber die Reform der AHV bildet für die BVG Revision eine wichtige Grundlage, denn alles baut auf der AHV und dem darin festgelegten Referenzalter auf. Sollte also die AHV-Reform am 25. September abgelehnt werden, dann ist auch die BVG-Reform blockiert. Dabei wären Reformen dringend notwendig.
Droht die AHV-Reform zu scheitern?
Rafael Lötscher: Das ist leider zu befürchten. Die Diskussion dreht sich vor allem um die Erhöhung des Rentenalters der Frauen. Dabei wäre das für die Frauen nicht nur ein Nachteil. Ein Jahr lang mehr Beiträge einzubezahlen heisst auch, mehr Rente zu bekommen. Für mich ist aber auch klar – gleiches Rentenalter muss auch Lohngleichheit für Männer und Frauen bedeuten.
Sehen Sie Reformalternativen?
Lötscher: Es ist letztlich immer auch eine Kostenfrage. Mit dem viel diskutierten Einbezug von schwankenden Nationalbankgeldern wird das Grundproblem nicht gelöst. Wir sollten nachhaltigere Lösungen anstreben.
Huber: Es gäbe Lösungen, aber ob die jemand will? Wir erhöhen das Rentenalter nicht, aber dafür kürzen wir die Renten wegen der längeren Lebenserwartung. Es geht immer um ein «entweder oder». Steuererhöhungen und höhere Lohnabzüge sind ebenfalls nicht mehrheitsfähig, da dies als nicht wirtschaftsfreundlich angesehen wird.
Lötscher: Die AHV-Beiträge wurden seit 1975 nur minimal angepasst. Wären sie in all den Jahren analog zur Lohnentwicklung regelmässig leicht nach oben angepasst worden, so müssten wir heute das Rentenalter wohl nicht erhöhen.
Die Pensionskassen hatten ein erfolgreiches Börsenjahr 2021. Die oft diskutierte Umverteilung im BVG, welche es eigentlich nicht geben sollte, wurde im 2021 massiv reduziert. Braucht es nun doch keine BVG-Reform?
Huber: Doch, es braucht unbedingt Reformen. Und vergessen wir nicht, die viel diskutierte Umverteilung basiert lediglich auf Schätzungen. Die Umverteilungsparameter müssen angepasst werden, um die systemwidrige Fehlkonstruktion zumindest leicht zu korrigieren. Nach dem sehr guten Börsenjahr 2021 dürfen wir gespannt sein, wie viel Geld 2022 umverteilt wird.
Das Ausland bewundert unser 3-Säulenkonzept. Sie auch?
Lötscher: Ich finde das 3-Säulenkonzept gut, – aber das System ist vor allem auf das Alter ausgerichtet. 18-Jährige denken nicht als Erstes an die Altersvorsorge. Hier müsste man Gegensteuer geben und mehr Flexibilität schaffen. Heutzutage kann man seine Vorsorgegelder nur für Wohneigentumszwecke oder eine Selbstständigkeit vorbeziehen. Andere Lebensphasen wie etwa verlängerte Mutter- oder Vaterschaftsurlaube, Sabbaticals, Weiterbildungen oder die bewusste Pflege von Angehörigen lassen sich damit nicht finanzieren. Die Vorsorgelösungen anderer Länder sind diesbezüglich moderner und näher an der Lebensrealität der Bevölkerung.
Was könnten wir von anderen Ländern übernehmen?
Huber: Bezüglich Umverteilung im BVG ist uns Liechtenstein voraus: Das Fürstentum kennt keine PK-Altersabstufungen im Sparbereich, sondern hat gleichbleibende Beitragssätze. Damit wird das Argument, ältere Leute wegen höherer Sozialkosten nicht anzustellen, entschärft. Liechtenstein kennt im Gegensatz zur Schweiz auch keine gesetzlich festgeschriebenen Mindestumwandlungssätze und Mindestzinsen. Deutschland könnte für uns in Bezug auf ein flexibleres Lebensphasenvorsorgemodell mit Zeitwertkontos ein Vorbild sein. Anstelle von Geld wird Zeit angespart und bei Bedarf bezogen.
Das Rentensystem geht davon aus, dass man mit zunehmendem Alter mehr verdient. Inwiefern spielten da die zunehmende Teilzeitarbeit und gleichzeitige Ausübung mehrerer Jobs hinein?
Huber: Der Koordinationsabzug ist Gift für Teilzeitarbeit und Mehrfachjobs. Im BVG gäbe es die Möglichkeit, neben dem Haupterwerbseinkommen weitere Einkommen mitzuversichern oder den Koordinationsabzug ganz zu streichen. Die Möglichkeit, verschiedene Einkommen über einen Arbeitgeber mitzuversichern, wird wegen des Debitorenrisikos jedoch nur marginal genutzt. Hier müsste auf juristischem Weg geregelt werden, dass Pensionskassen zur gegenseitigen Rechnungsstellung verpflichtet sind.
Im Bereich der 3. Säule sind Anpassungen rund um mögliche nachträgliche Einzahlungen vorgesehen. Was ist da der aktuelle Stand der Dinge?
Lötscher: Die Motion von Ständerat Erich Ettlin, die einen rückwirkenden Einkauf in die dritte Säule vorsieht, liegt bei der Bundesverwaltung. Aktuell wird davon ausgegangen, dass die Motion frühestens 2024 umgesetzt wird. Die Forderung des SVP-Nationalrats Erich Hess von höheren jährlichen Einzahlungsbeiträgen in die 3. Säule war für den Umsetzungsprozess der Motion Ettlin leider kontraproduktiv. Ich hätte hier mehr Fingerspitzengefühl von der SVP erwartet. Reformen müssen Schritt für Schritt umgesetzt werden und nicht alle auf einmal.
Was sind die häufigsten Fragestellungen aus Ihrem Geschäftsalltag?
Huber: Unsere Kundschaft will eigenverantwortlich handeln und die Anlagestrategie ihrer Vorsorge-Guthaben mitbestimmen. Wir beobachten, dass das Problem der Umverteilung zu vielen gesplitteten Vorsorgelösungen am Markt geführt hat. Oft wird eine Basislösung im Obligatorium um eine Zusatzvorsorgelösung für Seniors und Kaderleute ergänzt. In der Zusatzvorsorge sind individuelle Anlagestrategien möglich, das schätzen unsere Kundinnen und Kunden sehr.
Lötscher: Besonders Fach- und Führungskräfte studieren heute das Vorsorgeangebot eines neuen Arbeitgebers sehr detailliert. Das obligatorische AHV- und BVG-Rentensystem orientiert sich an einer maximal versicherten Lohnsumme von 85 000 Franken. 60 Prozent dieser Lohnsumme sollte als Rentenleistung resultieren. Doch bei höheren, teils nicht vollständig versicherten Löhnen kann das zu massiven Einbussen und zu einem bösen Erwachen im Leistungs- oder Rentenfall führen.
Ironische Frage: Habt ihr denn schon 18-jährige Kunden?
Huber: Nein, das noch nicht (lacht). Aber wir werden neue Angebote lancieren, die es ermöglichen, bereits ab dem Alter von 18 Jahren mit dem Vorsorgesparen beginnen zu können. Wenn sich nur schon die Dreissigjährigen mit dem Thema befassen würden, wäre das ein Erfolg. Die Altersvorsorge gewinnt in der Regel erst dann an Bedeutung, wenn Kinder auf der Welt sind und es gilt, die Familie abzusichern. Das Sterbe- und Invaliditätsrisiko wird meist komplett ignoriert. Die meisten beschäftigen sich erst ab 45 mit der Vorsorgethematik oder wenn es darum geht, ein Eigenheim zu finanzieren.
Gerade Frauen sollten sich vermehrt für Vorsorgethemen interessieren, oder nicht?
Huber: Definitiv. Wir wollen mehr erwerbstätige Frauen. Mütter sollen sich nicht mehr 15 Jahre lang ausschliesslich um die Kinder kümmern. Väter sind in der Pflicht, sich viel stärker in den Haushalt und die Kinderbetreuung einzubringen. An den Universitäten sind die Studentinnen in der Mehrheit. Verabschieden sich diese Frauen nach dem Studium ins Mutterdasein, geht unserer Volkswirtschaft enorm viel Potenzial verloren. Studien zeigen, dass sich Frauen für die Finanzplanung mehr Zeit nehmen als Männer. Zudem sind sie weniger risikofreudig. Aber wenn Frauen Anlageentscheide fällen, dann halten sie konsequenter daran fest als Männer. Das prädestiniert sie fürs Vorsorgesparen. Denn bei der Altersvorsorge ist es entscheidend, regelmässig Einzahlungen vorzunehmen und der verfolgten Anlagestrategie über lange Zeit treu zu bleiben. Vorsorge heisst letztlich immer Konsumverzicht. Ich hoffe sehr, dass Frauen zur treibenden Kraft werden, um sich frühzeitig mit der Vorsorgethematik zu befassen. Möglicherweise sind es die jungen Frauen von heute, die gleichaltrige Männer in Zukunft über das Vorsorgesparen aufklären. Ob das ein Trend wird, werden wir wohl erst in fünf bis zehn Jahren erkennen.
Lötscher: Jüngere Männer und jüngere Frauen denken ganz anders als frühere Generationen. Sie sind häufiger bereit, das Arbeitspensum gemeinsam zu reduzieren oder Teilzeit zu arbeiten, um Zeit für die Kinderbetreuung zu haben. Darum wäre es wichtig, dass die Politik einen auf das Arbeitspensum abgestimmten Koordinationsabzug im BVG umsetzt.
Ist dies auch wichtig, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen?
Lötscher: Ganz klar. Es ist unverständlich, dass linke Kreise die Absicherung von Besserverdienenden bekämpft. Die gesetzliche Vorsorge ist auf den Durchschnitt ausgerichtet. Leider habe ich in meiner Beratungstätigkeit zu oft Gutverdienende gesehen, die im Hier und Jetzt gelebt haben und nicht realisierten, dass nicht ihr gesamtes Einkommen für das Rentenalter versichert war. Einige wurden sogar zum Sozialfall. Der Zugang für Besserverdienende zu nachhaltigen Altersvorsorgelösungen sollte erleichtert und nicht weiter eingeschränkt werden.